Es gibt viele Momente in der ruhmreichen Karriere Michael Jordans, die es verdient hätten, in dieser Rubrik gewürdigt zu werden. Aber dieser eine gilt als besonders ikonisch. Zumal er in eine Zeit fällt, als „MJ“ zwar bereits mehrfacher All Star war und zwei Mal den Slam-Dunk-Contest gewonnen hatte, ja sogar zum besten Spieler der NBA gewählt worden war – aber mit den Chicago Bulls nicht mal die Finals erreicht, geschweige denn einen Titel geholt hatte. Das sollte er auch in jener Saison nicht schaffen, aber dennoch war der 7. Mai 1989 so etwas wie die endgültige Initialzündung für das, was kommen sollte. An diesem Abend versenkte Michael Jordan „The Shot“.
Das Bild ist körnig, Ende der 80er Jahre waren selbst hochwertige Kameras nicht in der Lage, bei künstlichem Licht gestochen scharfe Bilder zu machen. Aber die Qualität reicht aus, um im Hintergrund unterschiedliche Emotionen wahrzunehmen, die in diesem Moment eingefroren wurden. Blankes Entsetzen auf den Rängen, eine Zuschauerin legt sich die Hände auf die Wangen, wie um Edvard Munchs „Der Schrei“ nachzustellen. Ein Mann im feinen Zwirn hingegen, der direkt an der Grundlinie des Courts sitzt, jubelt ekstatisch und scheint im Begriff, aufzuspringen. Der Protagonist, der Spieler mit der Nummer 23, dominiert das Bild. Er steht einen halben Meter in der Luft und feiert sich, während links von ihm sein Antagonist seiner Verzweiflung freien Lauf lässt und wenige Sekunden später mit der Hand auf den Parkettboden schlagen wird. Craig Ehlo hatte sein Bestes geben, ja, er war an jenem Nachmittag sogar über sich hinausgewachsen. Aber er konnte einfach diesen letzten Wurf nicht verteidigen, weil Michael Jordan die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft gesetzt hatte. Weil er einfach in der Luft verharrte, während Ehlo im vergeblichen Versuch, den Wurf zu blocken, bereits wieder auf dem Weg nach unten war. Er sah nur noch, wie der Ball durchs Netz zischte. 100:101. Die Saison der Cleveland Cavs endete hier.

Dort, wo damals das Richfield Coliseum stand, eine halbe Auto-Stunde südlich von Clevelands Stadtkern, grünt heute eine Wiese – nichts deutet mehr darauf hin, dass in den 70ern und 80ern regelmäßig 20.000 Menschen hierher pilgerten. Der Schauplatz von „The Shot“, aufgrund seiner abgelegenen Lage „The Palace on the Prairie“ genannt, wurde im Frühjahr 1999 dem Erdboden gleichgemacht. Die Cavaliers waren bereits fünf Jahre zuvor in ihre neue Heimat im Zentrum der Eriesee-Metropole gezogen.
Bis auf einen Divisionstitel (Central Division) 1976 hatten die Cavaliers nichts vorzuweisen. Dasselbe galt für die Chicago Bulls, die ein Jahr zuvor die Midwest Division gewonnen hatten. Nach 15 mehr oder weniger drögen Jahren befanden sich beide Franchises nun auf dem Weg nach oben. Cavs-Coach Lenny Wilkens hatte um Mark Price, Larry Nance und Brad Daugherty ein Team aufgebaut, das mit 57 Siegen und 25 Niederlagen die bis dahin beste Bilanz erzielte, was in der Eastern Conference zu Platz drei reichte. Und die Bulls standen, ohne es zu wissen, am Beginn der prägendsten Ära der NBA-Geschichte. Ihr künftiger Meister-Trainer Phil Jackson saß 1989 noch als Assistent von Doug Collins auf der Bank, im Schatten Jordans reifte derweil Scottie Pippen ebenfalls zum Superstar heran.
In der regular season trafen beide Teams sechs Mal aufeinander, sechs Mal gewann Cleveland. Mit 37 Siegen und nur vier Niederlagen waren die Cavs die heimstärkste Mannschaft der NBA. Doch das alles zählte nicht mehr, als am 28. April die Best-of-Five-Serie in der ersten Playoff-Runde startete. Die Bulls, die in den Monaten zuvor mit durchschnittlich 16 Punkten Differenz drei Mal hier verloren hatten, gewannen zum Auftakt im Richfield Coliseum 95:88. Spiel zwei ging an Cleveland (96:88), ehe die Bulls zu Hause gewannen (101:94) und auch im vierten Duell führten. Jordan, der an diesem Abend 50 Punkte erzielte, verwarf jedoch acht Sekunden vor dem Ende beim Stand von 99:97 einen Freiwurf, auf der Gegenseite versenkte Daugherty zwei Versuche und brachte die Partie in die Verlängerung, in der die Cavs 108:105 gewannen und das entscheidende Spiel fünf erzwangen.
„Get the ball to Michael“
Craig Ehlo galt als Defensivspezialist. Gerade mal einen Punkt hatte der 27-Jährige in Spiel vier beigesteuert und seine Aufgabe würde es nun sein, Michael Jordan, den titellosen Superstar, so gut es ging in Schach zu halten. 20.273 Zuschauer strömten am 7. Mai 1989 ins Richfield Coliseum. Das Duell Cavs gegen Bulls wurde nun immer mehr zum Duell Ehlo vs Jordan – und es steuerte unaufhaltsam auf den denkbar spannendsten und knappsten Ausgang zu.
Zur Pause führten die Cavs 48:46, zu Beginn des vierten Viertels 75:69. Ehlo verteidigte und verteidigte, es ging hin und her – und der Blondschopf setzte auch Offensivakzente, allein im Schlussviertel markierte er 15 Punkte. 98:97 Cavs. Sechs Sekunden vor dem Ende konnte er aber Jordan nicht halten, Nance versuchte noch, den Wurf zu blocken, aber erfolglos. 99:98 Bulls, die Sensation war zum Greifen nah. Auszeit. Wilkens redete auf seine Spieler ein, die wie in Trance zuhörten. Einwurf Ehlo zu Nance, der zurück zu Ehlo, Korbleger – Wahnsinn. Noch drei Sekunden, wieder Time-Out. Das Richfield Coliseum stand Kopf. Ehlo hatte seine Punkte 23 und 24 markiert – so viele wie in den bisherigen Partien der Serie zusammengenommen (Spiel drei hatte er verpasst) – und schien der Star des Abends zu werden. Er wurde es nicht.
Während der Auszeit machte Wilkens einen deutlich gelasseneren Eindruck als sein Gegenüber Collins. Wie der Bulls-Plan für die verbleibenden drei Sekunden aussehen könnte, ließ sich jedoch leicht erahnen. Jordan befreite sich aus der Doppeldeckung durch Ehlo und Nance, indem er Letzteren mit einem schnellen Richtungswechsel ins Leere laufen ließ. Brad Sellers brachte den Ball von der Seitenlinie ins Spiel, Jordan zog links an Ehlo vorbei und stieg an der Freiwurflinie hoch. Standbild. Korb oder kein Korb, Sieg oder Niederlage, Saisonende oder Playoff-Erstrundensieg. Zack! Korb! 101:100! Collins rannte mit ausgestreckten Armen über das Parkett und fiel seinem Assistenten Jackson um den Hals, nicht ahnend, dass dieser ihn am Ende der Saison beerben würde.
Dass er den letzten Wurf, „the Shot”, nicht verteidigen konnte, wurde zum Stigma von Ehlos 15 Jahre währender NBA-Karriere. Dass er einer der besten Defensivspieler seiner Zeit war: vergessen. Während er zu Boden ging, stand Jordan ein zweites Mal in der Luft, dieses Mal nicht zum Wurf, sondern zum Jubel. Der Fotograf drückte in diesem Moment ab – und machte das Foto, das zum Sinnbild des nahenden Bulls-Höhenflugs wurde. Auch wenn es in jener Spielzeit noch nicht reichte. Zwar schalteten Jordan und Co. die New York Knicks mit 4-2 aus, scheiterten dann aber im Halbfinale an den übermächtigen und späteren Champions Detroit Pistons (2-4).
Auf der anschließenden Pressekonferenz wurde Collins gefragt, wie seine taktische Ansage während der letzten Auszeit lautete. Sie war denkbar simpel: „Get the ball to Michael, everybody get the fuck out of the way!”