Traumtanz: Aberdeen FC 1982/83

So ganz waren sie in Aberdeen mit dem Setzsystem der UEFA nicht einverstanden. Denn während bei der Auslosung zum Cup der Pokalsieger am 14. Juli 1982 in Zürich Mannschaften wie Austria Wien, AZ ’67 Alkmaar oder der IFK Göteborg in einen anderen Lostopf kamen, um deren Aufeinandertreffen in Runde eins zu verhindern, mussten die Dons sogar in die Qualifikation. Aber das sollte ihren Ehrgeiz nur noch steigern. Ein wahrer Prüfstein war der FC Sion ohnehin nicht. Im Gegenteil: Die Schweizer waren der ideale Aufbaugegner, um sich für die kommenden Aufgaben einzuschießen. Trainer Alexander Ferguson, damals noch kein „Sir“, hatte die Roten 1978 übernommen und ging somit in seine fünfte Saison. In einer Zeit, in der nicht Jahr für Jahr die besten Spieler ihre Klubs verließen, sondern Teams über mehrere Spielzeiten zusammenwachsen konnten, war in Aberdeen eine bärenstarke Truppe mit mehreren Nationalspielern entstanden, die durch ein 4:2 nach Verlängerung gegen die Rangers den FA Cup gewonnen hat und in der Meisterschaft nur zwei Punkte hinter Celtic ins Ziel gekommen war.

Gegen die Schweizer trat Ferguson mit voller Kapelle an, im Hinspiel im Pittodrie Stadium stand es nach 34 Minuten bereits 4:0, am Ende 7:0. Sechs Spieler trugen sich in die Torschützenliste ein, Eric Black zwei Mal. In Sion hätte mit diesem Polster auch die Reserve den Einzug in die erste Runde geschafft. Aber auch das war damals anders: Keine riesigen Kader, keine Rotation, Ferguson schickte erneut sein bestes Aufgebot aufs Feld. Georges Bregy erzielte sogar nach Aberdeens Führung durch John Hewitt den zwischenzeitlichen Ausgleich für die Schweizer (29′), doch nach dem Wechsel schalteten die Dons einen Gang hoch und siegten im Stade Tourbillon 4:1. Qualifikation überstanden.

DINAMO TIRANA

Wer nun aber mit einem großen europäischen Brocken gerechnet hatte, sah sich getäuscht. Zum Auftakt des Europapokals der Pokalsieger 1982/83 kam lediglich Dinamo Tirana in den Nordosten Schottlands, wo man auf das „große Ereignis“ noch gar nicht richtig vorbereitet war. Zumindest nicht die Macher des Stadionhefts The Don, die auf der Titelseite ein „UEFA-Cup-Spiel“ ankündigten. Die international drittklassigen Albaner erwiesen sich dann aber als unerwartet harte Nuss, und so sollte Hewitts Treffer nach gerade mal zehn Minuten auch der einzige bleiben. In Tirana bot der Aberdeen FC beim 0:0 vor 20.000 Zuschauern eine schwache Vorstellung und mogelte sich mehr schlecht als recht ins Achtelfinale. Ferguson war klar, dass sich seine Jungs gewaltig steigern mussten, um gegen die Polen von Lech Posen zu bestehen.

LECH POSEN

Und wieder taten sich die Roten vor 18.000 Zuschauern im Pittodrie Stadium sehr schwer. Posen stand hinten dicht und hielt lange Zeit das torlose Remis, doch Tore von Mark McGhee (55’) per Kopf und Peter Weir (56’) nach Vorarbeit des schottischen Superstars Gordon Strachan sorgten für ein beruhigendes Polster. Im Rückspiel ließen sich die Schotten auch nicht von 33.000 polnischen Anhängern einschüchtern, Doug Bell sorgte nach 59 Minuten für die endgültige Entscheidung, als er eine Kopfballverlängerung aus kürzester Distanz einnickte. Aberdeen gewann 1:0 – und zog eher unspektakulär und fast unbemerkt erstmals in seiner Vereinsgeschichte in ein Europapokal-Viertelfinale ein. Keeper Jim Leighton, schottische Torhüter-Legende und nach der WM 1978 zu den Dons gestoßen, war in vier Spielen unbezwungen geblieben und hatte einen großen Anteil am Erfolg der Roten. Leighton sollte noch bei der WM 1998 im Tor der Schotten stehen und seine Karriere gar erst 2000 im Alter von 42 Jahren beenden.

Aberdeen hatte im Eiltempo das Viertelfinale erreicht und erst jetzt wurde es richtig interessant. Endlich durften die Schotten so richtig im Konzert der Großen mitmischen. Denn mit dem FC Bayern München wartete nun ein wahrer Top-Klub, der im Vorjahr erst im Finale des Landesmeister-Wettbewerbs an Aston Villa gescheitert war. Die Statistik sprach gegen Aberdeen, denn in bisher vier Duellen gegen (west-)deutsche Klubs waren die Dons immer auf der Strecke geblieben.

BAYERN MÜNCHEN
Aberdeens Spieler vor der spärlichen Kulisse im Olympiastadion.

Im Olympiastadion trotzten Fergusons Mannen dem Favoriten allerdings ein 0:0 ab. Ein kleiner Schönheitsfehler im Parcours, dachten die Münchner, den sie nun in Aberdeen ausmerzen wollten. Es sollte einer der größten Abende überhaupt im Pittodrie Stadium werden. Klaus Augenthaler hatte die Bayern mit einem strammen Schuss aus 20 Metern in den Winkel früh mit 1:0 in Führung gebracht (10’), nun mussten die Dons schon zwei Tore erzielen.

Die Platzherren zeigten sich jedoch unbeeindruckt und drückten nun aufs Gaspedal. Ein Kopfball von Alex McLeish krachte an die Latte. Kurz darauf bediente der feine Techniker Strachan Rechtsaußen Weir, der auf den lauernden McGhee flankte, doch Bayern-Schlussmann Manfred Müller fing die Hereingabe ab. Der Druck nahm zu – und entlud sich im Ausgleich sechs Minuten vor der Halbzeit. Augenthaler klärte im Fünfmeterraum vor die Füße von Neil Simpson, der geistesgegenwärtig zum 1:1 abstaubte.

Der Nordsee-Wind peitschte an diesem März-Abend unablässig durch das 500 Meter vom Meer entfernte Pittodrie Stadium. Nach einer knappen Stunde gefror den Zuschauern das Blut in den Adern, als Hansi Pflügler mit einer starken Direktabnahme die Begegnung endgültig zu Gunsten der Deutschen entschieden zu haben schien. Ferguson bewahrte die Ruhe und vertraute auf seine Bankspieler. Und tatsächlich: Die eingewechselten John McMaster und Hewitt drehten das Spiel. McMaster und Strachan führten den Freistoßtrick aus, der zu McLeishs Kopfball zum 2:2 (77’) führte. Keine 60 Sekunden später war es erneut McMaster, der Black maßgeschneidert bediente. Und als Müller dessen Kopfball nur abklatschen konnte, war Hewitt zur Stelle und drückte die Kugel über die Linie – 3:2 (78’). Pittodrie stand Kopf und der Aberdeen FC im Halbfinale. Paul Breitner hätte sich sicherlich einen besseren Ausstand gewünscht – es war sein letztes Spiel auf internationalem Terrain.

THOR WATERSCHEI

Im Halbfinale wurde den Dons mit dem KSV THOR Waterschei eine große Unbekannte zugelost. Die Truppe aus dem belgischen Genk hatte im Viertelfinale nach einem 0:2 im Hinspiel immerhin Paris St.-Germain mit einem 3:0 nach Verlängerung aus dem Wettbewerb gekegelt und war daher nicht zu unterschätzen. Vor allem in den Heimspielen waren die belgischen Teams mit ihren vom Wetter zerfurchten Plätzen und dunklen Stadien in jenen Tagen eine Macht. Nur: Die Heimstärke sollte den Schwarz-Gelben nach einem desolaten Auftritt im Pittodrie Stadium nichts mehr nützen.

Dieses Team von THOR Waterschei warf Paris St.-Germain aus dem Wettbewerb. Vorne links Lei Clijsters. Mit belgischen Teams war nicht zu spaßen.

Am 6. April 1983 wurde THOR von einem absoluten Blitzstart der Schotten überrascht. Gerade mal vier Minuten waren gespielt, da führten die Dons bereits mit 2:0. Die Tore von Black (1’) und Simpson (4’) weckten bei den 24.000 Zuschauern die Hoffnung auf ein Schützenfest, das aber noch etwas auf sich warten ließ. Denn bis zur 68. Minute tat sich nichts mehr. Dann jedoch klingelte es in schöner Regelmäßigkeit: McGhee (68’) und Weir (70’) schraubten das Resultat auf 4:0, bevor der Isländer Lárus Guðmundsson die Distanz verkürzte (75’). In der Schlussphase war es erneut McGhee vorbehalten, das Tor zum 5:1-Endstand zu erzielen.

Sollte Waterschei noch einmal einen deutlichen Rückstand wettmachen können? Immerhin 18.000 Zuschauer strömten ins André-Dumont-Stadion, sie schienen also daran zu glauben. Aber Aberdeen war nicht Paris. Die Belgier, in deren Reihen unter anderem Nationalspieler Lei Clijsters – Vater der späteren Weltklasse-Tennisspielerin Kim Clijsters – stand, bissen sich die Zähne aus. Kleiner Trost: Dank Eddy Voordeckers’ Treffer in der 72. Minute gewannen sie das Rückspiel mit 1:0 und waren somit die einzige Mannschaft, die den AFC in dieser Europapokalsaison bezwingen konnte. Die Jubelszenen spielten sich allerdings bei den Roten ab, die mit Strachan, Bell, Black und Neale Cooper gleich vier Stammkräfte ersetzen mussten.

Für Waterschei war es der letzte Auftritt auf der internationalen Bühne. In einer dreijährigen Spanne von 1980 bis ’83 waren die Belgier in sieben Europapokal-Heimspielen ungeschlagen geblieben. Ausgerechnet 1981/82 aber, als sich Waterschei nicht für einen EC qualifiziert hatte, sorgte der fünf Kilometer westlich beheimatete Lokalrivale KFC Winterslag bei seiner ersten und einzigen internationalen Teilnahme für Furore, als der kleine Klub aus dem Kohlerevier im heimischen Stadion an der Noordlaan das große Arsenal 1:0 besiegte und zwei Wochen später trotz einer 1:2-Niederlage in Highbury aus dem UEFA-Cup-Wettbewerb warf! Im Achtelfinale folgte schließlich das Aus gegen Dundee United, das sich wie Aberdeen gerade anschickte, den großen Glasgower Vereinen kräftig in die Suppe zu spucken. Am 1. Juli 1988 fusionierten Winterslag und Waterschei zum KRC Genk, der im mittlerweile völlig umgebauten Dumont-Stadion (heute: Luminus Arena) zu Hause ist, während die schnuckelige Noordlaan gelegentlich der Feuerwehr zu Übungszwecken diente und schließlich der Natur überlassen wurde.

REAL MADRID

Zum ersten Mal lag der Austragungsort für ein Europapokalfinale in Skandinavien. Göteborg hatte auf Grund des 25-jährigen Bestehens seines Stadions den Zuschlag erhalten und nicht ohne Grund gehofft, am 11. Mai 1983 den heimischen IFK im Nya Ullevi einlaufen zu sehen. Doch der UEFA-Cup-Sieger des Vorjahrs war überraschend bereits in Runde eins an Újpesti Dózsa aus Budapest (1:1, 1:3) gescheitert. Die Ungarn flogen unmittelbar darauf gegen Real Madrid raus, das es hingegen bis nach Göteborg geschafft hatte.

Schon zwei Tage vor dem Finale belagerten schottische Fans siegessicher die schwedische Hafenstadt. 11.000 waren gekommen, um „Fergies Red Army“ zu unterstützen. Die Spanier galten natürlich als Favorit, aber Ferguson blieb gewohnt gelassen: „Sicherlich hat Real die routiniertere Mannschaft, aber wenn wir unser Spiel spielen und den Gegner unter Druck setzen, haben wir eine reelle Chance.“ Und natürlich vertraute er auf seinen Schlips. Denn „Fergie“ war schon damals dafür bekannt, abergläubisch zu sein. „Wenn ich mit einer Krawatte ins Stadion komme, kann nichts mehr passieren“, erklärte er. Einmal hatte er sie vor einem richtungsweisenden Auswärtsspiel bei den Glasgow Rangers vergessen und rannte verzweifelt in der Kabine umher. Da band ihm Kapitän Willie Miller kurzerhand seine eigene um. Aberdeen gewann 3:1.

Der Regen, der über Göteborg niederprasselte, spielte Aberdeen in die Karten, sorgte er doch für „schottische Verhältnisse“. Und die Dons erwischten tatsächlich den besseren Start. Strachans Eckball köpfte McLeish vor das Tor der Königlichen, Black kam im Fünfmeterraum vor Reals Keeper Agustín an den Ball und ließ ihm keine Chance – 1:0 (7’). Doch die Freude währte nicht lange. Madrids Stürmer Santillana war, von Ulli Stielike herrlich frei gespielt, durchgebrochen und stürmte allein auf Aberdeens Torwart Leighton zu. Als der ihn umriss, deutete der italienische Unparteiische Gianfranco Menegali ohne zu zögern auf den Punkt – Juanito verwandelte sicher (14’).

Black überwindet Agustín zum 1:0.

Doch wer nun glaubte, Real Madrid würde das Spiel in den Griff bekommen, irrte. Neben dem peitschenden Regen und den strammen Windböen blies den Spaniern auch der Sturmlauf der Schotten ins Gesicht, und Aberdeens Fans rauften sich die Haare, als Strachan zwei Hundertprozentige ausließ und Blacks Kopfball nur haarscharf über das Tor flog (63’). Real rettete sich in die Verlängerung. Drei Minuten vor dem Ablauf der regulären Spielzeit hatte Ferguson seinen Supersub, den Bayern-Schreck Hewitt, für den angeschlagenen Black eingewechselt. Und der 20-Jährige sollte seinen Coach auch diesmal nicht enttäuschen. Als sich das von der Fußball-Legende Alfredo di Stéfano trainierte Real bereits nach dem Elfmeterschießen sehnte, verlängerte Hewitt eine lang gezogene Linksflanke McGhees zum 2:1-Siegtreffer ins Netz (113’). Auf dem Papier eine Sensation, vom Spielverlauf her ein absolut gerechtfertigtes Ergebnis. Nach Celtic und den Rangers durfte sich mit dem Aberdeen FC nun der dritte schottische Klub in die Ehrenliste des Europapokals eintragen! Mit einem Altersschnitt von 23 Jahren war es zudem die jüngste Mannschaft, die bis dahin jemals einen EC gewonnen hatte.

Während aus der Kabine die Freudengesänge der Schotten erklangen, hauten die britischen Journalisten eifrig in die Tasten und produzierten ihre Schlagzeilen: „Fergusons Furien haben Europa verzaubert“, titelte der Daily Record. Und die Evening Times meinte: „Die Dons sind die wahren Champions in Europa.“ Die schottischen Fans blieben erstaunlich friedlich, was wohl auch an den horrenden Alkoholpreisen in Schweden gelegen haben mag.

Der AFC war auf dem absoluten Höhepunkt seiner Klubhistorie angelangt. Nur zehn Tage später verteidigten die Dons mit einem 1:0 nach Verlängerung (Black, 116’) gegen die Glasgow Rangers den schottischen Pokal. Ironischerweise hatte die Vereinsführung genau zu jener Zeit das Logo um den Schriftzug „Aberdeen Football Club“ mit der Begründung erweitert, dass außerhalb Schottlands niemand das Wappen identifizieren könne. Das wäre spätestens seit der Nacht von Göteborg nicht mehr nötig gewesen.

Wenige Tage nach dem Europapokal der Pokalsieger gewann Aberdeen in Glasgow auch den schottischen FA Cup. Links der junge Alex Ferguson.

EUROPAPOKAL DER POKALSIEGER 1982/83

Aberdeen FC – FC Sion 7:0, 4:1 [Qualifikation]
Aberdeen FC – Dinamo Tirana 1:0, 0:0
Aberdeen FC – Lech Posen 2:0, 1:0
Bayern München – Aberdeen FC 0:0, 2:3
Aberdeen FC – THOR Waterschei 5:1, 0:1

Aberdeen FC – Real Madrid 2:1 (1:1, 1:1) n.V.
Aberdeen: Leighton – Rougvie, McLeish, Miller, McMaster, Cooper, Strachan, Simpson, McGhee, Black (87′ Hewitt), Weir. – Trainer: Ferguson.
Real: Agustín – Juan José, Metgod, Bonet, Camacho (91′ San José), Ángel, Gallego, Stielike, Isidro (103′ Salguero), Juanito, Santillana. – Trainer: di Stéfano.
Tore: 1:0 Black (7′), 1:1 Juanito (14′, Strafstoß), 2:1 Hewitt (112′). SR: Menegali (Italien). Zuschauer: 17.804. Karten: Gelb für Gallego (98′).
Göteborg, »Nya Ullevi«, 11. Mai 1983

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