Lost Grounds: Stadion Slavie na Letné

Es wurde auch einfach nur „das hölzerne Stadion“ genannt. Der Ort, an dem der Traditionsklub Slavia Prag seine größten Erfolge feierte, befand sich bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in unmittelbarer Nähe der Heimspielstätte des Lokalrivalen Sparta: Im auf einem kleinen Hügel nördlich der Moldau und unweit des Stadtzentrums gelegenen Letná-Park. 300 Meter Luftlinie trennten das Stadion Slavia vom Stadion Sparta, die beide die Zusatzbezeichnung na Letné, auf der Letná, trugen. Der Torjubel im einen Stadion war also im anderen – jenseits der Straße, die heute den Namen der Widerstandskämpferin Milada Horáková trägt – sehr gut zu hören. In den 1950er Jahren wurde Slavia vom Letná-Hügel vertrieben und in den Stadtteil Vršovice umgesiedelt. Zuvor hatten deutsche Soldaten das historische hölzerne Stadion niedergebrannt.

Bevor Slavia auf der Letná-Ebene (deutsch: „Sommerberg“) heimisch wurde, spielte der von Studenten als Akademischer Radfahr-, Literaten- und Rhetorikerkreis Slavia (ACOS) gegründete Intellektuellen-Klub auf der kleinen Moldau-Insel Císařská louka („Kaiserwiese“), wurde jedoch bald aufgrund (vermuteter) „anti-österreichischer Aktivitäten“ verboten und gründete sich kurz darauf als Sport-Klub Slavia neu. Schon in dieser Zeit eigneten sich die Slawisten ihren roten Stern und ihre rot-weiß gehälfteten Trikots an, die ihnen den Spitznamen Sešívaní, die „Zusammengenähten“, einbrachten. 1897 erwarben sie im Letná-Park ein Grundstück, auf das sie ein Spielfeld und einen Wartungsschuppen errichteten. Dieser Sandplatz, der mit einem 0:0 gegen eine Berliner-Stadtauswahl eingeweiht wurde, befand sich in der nordöstlichen Ecke des Parks, vier Jahre später zog der Verein ein paar Meter weiter südlich und baute unter tatkräftiger Mithilfe einiger Spieler einen Trainingsplatz und ein neues Stadion, das im September 1901 mit einem Leichtathletikfest eingeweiht wurde. Erster internationaler Gast war der Southampton FC.

Luftbild der Letná-Ebene aus den 1920er Jahren, Blickrichtung Westen: Die direkt nebeneinander liegenden Plätze der Slavia und des DFC im Vordergrund, rechts das Stadion Sparta.

Direkt an das neue Spielfeld angrenzend befanden sich auf der einen Seite eine riesige Trab- und Radrennbahn, auf der anderen das Stadion Belvedere des Lokalrivalen Deutscher Fußball-Club Prag, der – obwohl Prag damals noch zu Österreich-Ungarn gehörte – an der Deutschen Meisterschaft teilnehmen durfte (und bei der ersten Austragung 1902/03 Vizemeister wurde). Überhaupt war der Letná-Park ein einziges Sportareal, rundherum befanden sich außerdem noch unzählige Tennisplätze verschiedener Klubs sowie eine Eisbahn. Die Letná-Ebene war schon damals ein Zentrum sozialer und sportlicher Aktivitäten, viele Vereine waren hier bereits zu Hause. Nun also auch Slavia, das sein gesamtes Hab und Gut – ein paar Stangen, Bretter und Kisten – von der „Kaiserwiese“ mitgebracht hatte.

Das Stadion Slavia war zunächst nichts weiter als ein Spielfeld (immerhin der erste Rasenplatz auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik) mit einem Drahtzaun, wurde aber über die Jahre in das modernste Stadion Böhmens ausgebaut. Eine erste Holztribüne mit Umkleiden und Meetingräumen wurde bereits 1901 errichtet, eine zweite charakteristische Konstruktion kam 1904 hinzu, dazu eine vier Meter breite und 350 Meter lange Aschenbahn, die das Spielfeld (69 x 102 Meter) umrundete. Anfang der 1920er Jahre, als dieser Teil Österreich-Ungarns gerade zur Tschechoslowakei geworden war, verfügte das Stadion Slavie na Letné über ein Fassungsvermögen von 30.000 Zuschauern und war Austragungsort von Länderspielen der tschechoslowakischen Nationalmannschaft, die hier ungeschlagen blieb. Auf der anderen Straßenseite war derweil 1917 das Stadion Sparta eröffnet worden. Der proletarische Rivale hatte den örtlichen Wasserwerken ein Gelände abgekauft, der dazugehörige Wasserturm ist auf vielen historischen Fotos beider Stadien im Hintergrund zu sehen.

Diese Aufnahme des Stadion Slavia entstand in den 1920er Jahren. Im Hintergrund ist der Wasserturm zu erkennen, hinter der Gegengeraden auf der rechten Seite die Holztribüne des angrenzenden Stadion Belvdere (DFC Prag).

Unter dem schottischen Coach Johnny Madden, der Slavia von 1905 bis 1930 trainierte, feierte Slavia Prag nach der Einführung des Profitums 1924 sowie einer neuen nationalen Liga mehrere tschechoslowakische Meisterschaften und reifte mit Spielern wie dem Weltklasse-Keeper František Plánička oder Josef Bican zu einem europäischen Spitzenteam heran. Von 1928 bis 1930 blieb das Team in Heimspielen ungeschlagen, die Saison 1929/30 beendete es sogar verlustpunktfrei.

Durch eine weitere Tribüne erreichte das Stadion Slavia auf der Letná eine Kapazität von 33.000 und kam vor allem im Mitropa Cup, den die Rotsterne 1938 gewannen, an seine Belastungsgrenze. Am 2. Dezember 1934 stürzte während des Heimspiels zwischen Slavia und SK Židenice ein Teil der Stehtribüne ein, 20 Zuschauer wurden schwer, 40 Personen leicht verletzt. Eine Person erlag einen Tag später im Krankenhaus ihren Verletzungen. Frenetische Besucher hatten derart heftig mit den Füßen auf die Holz-Traversen gestampft, dass diese einbrachen und rund 150 Menschen acht Meter in die Tiefe und auf die Holztrümmer stürzten – während das Spiel weiterlief. Erst zur Halbzeit erfuhren die Akteure auf dem Rasen von dem Unglück. Slavia gewann die Partie durch Tore von Antonín Puč und František Svoboda mit 3:2 (und wurde am Saisonende Meister vor Sparta). Ende der 1930er Jahre entstanden Pläne für ein neues Stadion an selber Stelle, um mit dem größerem Stadion Sparta auf der anderen Straßenseite mithalten zu können. Es hätte 50.00 Menschen Platz bieten sollen und es existierten sogar schon Modellzeichnungen, doch zum Bau sollte es nicht kommen.

Vor dem Zweiten Weltkrieg feierte Slavia auf der Letná-Ebene acht Meisterschaften und den Gewinn des Mitropa Cups 1938, wobei das 9:0 im Viertelfinale gegen Inter Mailand am 11. Juli 1938 ein berauschender Höhepunkt war. Ein Jahr später verhallte der Jubel – und auch das Stadion Slavia taumelte seinem Ende entgegen. Das nationalsozialistische Deutschland war in Böhmen einmarschiert und hatte das Land unter das „Proktorat Böhmen und Mähren“ gestellt. Während der jüdisch geprägte Nachbar DFC Prag zur Auflösung gezwungen wurde, durfte Slavia noch ein paar Jahre weitermachen. Doch am 6. Mai 1945, während des Prager Aufstandes, brannten deutsche Soldaten das Stadion Slavia mitsamt des Klubhauses nieder. Ein Racheakt, so hieß es, für das 1897 in Brand gesetzte Gebäude des Deutschen Regattavereins, für den die Slawisten verantwortlich gemacht wurden.

In den Nachkriegsjahren wurde das Stadion neu aufgebaut, das charismatische Erscheinungsbild der Mehrtribünenkonstruktion auf der Westseite ging dabei jedoch verloren, stattdessen wurde eine neue Holztribüne für 4.500 Zuschauer errichtet. Das erste Spiel fand am 7. April 1948 gegen SK Union Čelákovice (11:1) statt. In der Zwischenzeit hatte Slavia seine Heimspiele in anderen Stadien, unter anderem auch in dem von Sparta, austragen dürfen. Kurz nach der Einweihung des neuen Stadions beschlossen dann die kommunistischen Behörden, in der Nähe des wiederaufgebauten Stadions ein riesiges Denkmal für den sowjetischen Diktators Josef Stalin zu errichten. In diesem Zusammenhang wurde das gesamte Gebiet auf der Letná-Ebene umgestaltet, das Stadion Slavia musste weichen. Die Rotsterne, die sich 1949 in Dynamo Slavia umbenennen mussten und ins sportliche Mitttelmaß abdrifteten, da das kommunistische Regime Leistungsträger zu anderen Klubs „delegierte“, trugen ihre letzte Begegnung dort am 3. Dezember 1950 gegen OD Karlín (3:3) aus, bald darauf wurden das hölzerne Stadion mitsamt der umliegenden Handball- und Tennisplätze dem Erdboden gleichgemacht und die Pläne für das Ende der 1930er Jahre projektierte neue Stadion zu den Akten gelegt.

An der Stelle der von der Wehrmacht niedergebrannten historischen Holztribünen entstand 1948 eine neue.

Immerhin wurde Slavia als Entschädigung ein neues Stadion versprochen, das fünf Kilometer südöstlich im Stadtteil Vršovice entstehen sollte – in einem Gebiet, das aufgrund eines gleichnamigen 1922 eröffneten Vergnügungsparks „Eden“ genannt wurde und in dem die Straßennamen sowjetischen Städten gewidmet waren. Die gerade erst fertiggestellte Holztribüne aus dem alten Stadion Slavia wurde in die neue Anlage an der Vladivostocká (Wladiwostok-Straße) verlegt, deren Fertigstellung sich jedoch drei Jahre hinzog, so dass Dynamo Slavia erneut auf andere Plätze ausweichen musste. 1951 steig der Klub sogar erstmals ab, kehrte aber ein Jahr später sofort in die oberste Spielklasse zurück. Das neue Stadion Eden (offizielle Bezeichnung nach dem damaligen Bürgermeister Stadion Dr. Václava Vacka) wurde am 27. September 1953 mit dem Meisterschaftsspiel gegen Olmütz (1:1) eröffnet.

Mittlerweile war auch das „Slavia“ aus dem Namen getilgt worden. Der Verein spielte als Dynamo keine große Rolle mehr, kehrte aber immerhin Mitte der 1990er Jahre in die nationale Spitze (der Tschechischen Republik) zurück. Das „Eden“ hatte im Jahr 2000 ausgedient, an seine Stelle wurde eine neue, hochmoderne Arena erbaut, die heute als die modernste Tschechiens gilt. Bis zu ihrer Eröffnung (2008) wichen die Rotsterne, die seit 1964 wieder Slavia heißen, Stadion Evžena Rošického (ehemals Masaryk-Stadion oder Stadion der Tschechoslowakischen Armee) aus.

Vom alten Stadion auf der Letná-Ebene ist nichts mehr übrig geblieben, nichts erinnert dort an seine glorreiche Existenz. Das Stalin-Denkmal, die größte Stalin-Darstellung weltweit, wurde 1962 gesprengt.

Das Projekt „Praha4D“ hat basierend auf historischen Bildern detailgetreue Computergrafiken der Letná-Ebene mit ihren Sportanlagen aus den 1920er Jahren erstellt. Sogar die Werbung auf den Tribünen wurde dabei berücksichtigt.

Werbung

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s